Interview am Presse- und Informationsbüro der griechischen Botschaft in Wien

Wien, 06.11.2018

[Dimitrios Kousouris ist Universitätsassistent am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien. Er studierte Geschichte und Archäologie an der Universität Athen (2000) und setzte sein Studium an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS, Paris, Frankreich) fort, wo er einen Masters Degree (DEA, 2003) und einen PhD in Geschichte erhielt.]

 

Er hat als Doktorand im Projekt „European Legal Cultures“ (2004-2007) und als Postdoc an der Princeton University (2010-2011) und an der University of Chicago (2011-2012) gearbeitet. Er hat Neuere Europäische Geschichte an der EHESS, der Kreta Universität, der University of Chicago (2012-2013) und der Columbia University (2016-2017) unterrichtet. Seine aktuelle Forschung betrifft die katholischen Gemeinschaften des Osmanischen Reiches während des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821-1828)].

Herr Kousouris, seit einigen Jahren unterrichten Sie neugriechische Geschichte am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien. Besteht Ihr Uni-Publikum vorwiegend aus griechischen Studenten oder aus Studenten anderer Nationalitäten? Interessiert sich die österreichische Gesellschaft für die byzantinische und neugriechische Geschichte und Literatur?

Das Publikum besteht vorwiegend aus Studierenden anderer Nationalitäten sowie aus Studierenden der zweiten oder dritten Migrantengeneration. Dennoch haben wir auch oft Erasmus-Studierende aus Griechenland.

Interesse für die byzantinische und neugriechische Geschichte und Literatur ist vorhanden. Zudem wissen Interessierte auch meistens schon, dass es uns gibt. Das Institut für Byzantinistik wird 2021 60 Jahre alt, der Lehrstuhl für Neogräzistik existiert seit 1982, die Bibliothek ist mit etwa 50.000 Bänden, wohl die größte des Faches in Europa, außerhalb Griechenlands. Wir sind auch eines der wenigen Institute, das auf allen drei Bologna-Ebenen Abschlüsse im Fach bietet: BA und MA Byzantinistik und Neogräzistik und Dr. phil. (in Byzantinistik oder in Neogräzistik).

Das Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien hat eine bemerkenswerte Forschungsarbeit zur byzantinischen und neugriechischen Kultur geleistet. Wie wird dieses Wissen sowohl in der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch in der griechischen und österreichischen Gesellschaft im Allgemeinen gefördert? Welche Initiativen hat das Institut diesbezüglich ergriffen?

Die forschungsgeleiteten Lehre, die von Institut auf allen Ebenen gefördert wird, erlaubt es beispielsweise Studierenden hoch aktuelle Inhalte zu rezipieren. Die Mitglieder des Instituts sind darüber hinaus durch die Organisation von internationalen Konferenzen hier in Wien, als auch durch die Teilnahme an Konferenzen im Ausland, durch zahlreiche Monographien und Publikationen, durch die eigene Zeitschrift „Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik“ (JÖB) und einer Reihe von wissenschaftlichen Publikationen wie „Studien zur Geschichte Südosteuropas“ international renommiert und aktiv.

Uns liegt auch die Einbindung der breiteren Öffentlichkeit sehr am Herzen. Wir kooperieren mit wissenschaftlichen Gesellschaften und bieten in regelmäßigen Abständen gemeinsame öffentliche Veranstaltungen an, z.B. mit der Österreichischen Gesellschaft für Neugriechische Studien oder der Österreichischen Byzantinischen Gesellschaft. Unsere Website bietet vielfältige Informationen und Links, unsere Fachbereichsbibliothek ist mit einem kleinen Beitrag auch für die allgemeine Leserschaft zugänglich und fungiert als ein Ort der Begegnung.

Eines der Themen, mit denen Sie im Unterricht befasst sind, ist der griechische Bürgerkrieg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Was denken Ihre internationalen Studenten über diese kontroverse Zeitperiode der jüngeren griechischen Geschichte und welche sind ihre Ansichten und Kommentare dazu?

Ungeachtet dessen, ob es sich um griechische oder internationale Studenten handelt, ist es, meiner Meinung nach, generell hilfreicher den griechischen Bürgerkrieg als Teil der europäischen oder Weltgeschichte darzustellen. Das bietet die Möglichkeit, die griechische Geschichte als etwas mehr als eine “Ausnahme“ oder eine periphere Anomalie zu einer allgemeinen Regel der reibungslosen Demokratisierung des Kontinents nach dem zweiten Weltkrieg zu verstehen. Dies führt in der Regel zu Diskussionen mit interessanten neuen Einsichten über die Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Ära des Kalten Krieges.

Im Rahmen eines transnationalen Ansatzes in Bezug auf die europäische Nachkriegszeit veranschaulicht der griechische Fall besser als jeder andere den Widerspruch zwischen dem offiziellen staatlichen Antifaschismus und der effektiven Integration von Kollaborateuren und Mitläufern faschistischer oder profaschistischer Regime in die Staatsapparate der Nachkriegsrepubliken. Dies veranlasst Studenten oft dazu, Parallelen zu finden und Vergleiche mit anderen europäischen Ländern zu ziehen. Ich denke, dass die Beschäftigung mit diesem Fragenkomplex den Studenten hilft, den Kurs der Nachkriegsdemokratisierung der westeuropäischen Gesellschaften jenseits der Ideologie der verschiedenen nationalen Narrative bzw. des Narratives der EU kritisch zu betrachten.

Als Sie Student waren, wurden Sie Opfer eines gewalttätigen Angriffs von Mitgliedern einer rechtsextremen Organisation in Griechenland, der Sie fast das Leben gekostet hätte. Damals war die extreme Rechte in Griechenland und in Europa im politischen Abseits. Heutzutage steht sie im politischen Vordergrund, sie beansprucht offensichtlich für sich mehr Macht und beteiligt sich an staatlichen und Regierungsinstitutionen in einigen europäischen Ländern. Was bedeutet das für die liberalen Demokratien in Europa?

Tatsächlich war ich Opfer eines Mordversuchs von Mitgliedern der Goldenen Morgenröte, einer damals marginalen neonazistischen Organisation, die heute eine parlamentarische politische Partei in Griechenland ist.

Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa ist, meiner Meinung nach, das Ergebnis der neoliberalen Politikder Demontage des Sozialstaates der Nachkriegszeit und der Deregulierung der Arbeitsmärkte, die von der EU und den Regierungen der alten und neuen Mitgliedstaaten seit mehr als drei Jahrzehnten systematisch verfolgt wird. Der sogenannte Identitätsentzug, der Rückzug in nationale oder kulturelle Identitäten, ist symptomatisch für Zeiten der Krise und Unsicherheit, weil diese Identitäten verfügbar bleiben und weil sie leicht von denjenigen manipuliert werden, die in Bezug auf Eigentumsbeziehungen nichts ändern wollen.

Darüber hinaus ist die Rückkehr der Extremen Rechten auch das Ergebnis eines langen Versuchs des Mainstreaming und der Banalisierung rassistischer Ideen der angeblichen kulturellen Überlegenheit Europas und/oder des Westens, die sich in einer Politik der “Festung Europas“ manifestiert – einer Politik, die in den letzten fünfzehn Jahren zum Tod von mehreren Zehntausend Einwanderern und Flüchtlingen an den EU-Aussengrenzen geführt hat.

Der Druck der imperialistischen Gegensätze zwischen der NATO, in ihrer Form nach dem Ende des Kalten Kriegs, und den neuen Hauptakteuren eines multipolaren Weltsystems, der sich in der Destabilisierung ganzer Weltregionen zeigt, scheint das ohnehin schon dominante Triptychon „Sozialabbau – Autoritarismus – stärkere Grenzkontrollen“ zu verstärken – ein Triptychon, das heute im Mittelpunkt der EU-Politik steht und die Grundlage für Regierungskoalitionen unter Beteiligung rechtsextremer Parteien bildet. Unter diesem Gesichtspunkt scheinen die europäischen liberalen Demokratien vor einer reaktionären Mutation zu stehen.

Die Umsetzung der europäischen Integration wurde, von Anfang an, als ein Versuch zur Festigung des Friedens unter den europäischen Staaten nach den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkriegs betrachtet. Heute zweifeln extreme politische Kräfte dieses Vorhaben an, verwenden eine nationalistische Rhetorik und unterstützen entweder die Schwächung der Europäischen Union oder ihre Abschaffung. Ein großer Teil der europäischen Bürger scheint von dieser Entwicklung fasziniert zu sein. Was ist eigentlich los? Verlieren wir unser historisches Gedächtnis oder hat die Europäische Union versagt?

Das Nachkriegsprojekt der europäischen Einigung auf Basis demokratischer und liberaler Werte war in der Tat, wie Sie sagen, das Ergebnis einer höchst traumatischen historischen Erfahrung, der Hekatombe des Zweiten Weltkriegs und der sozialen und geopolitischen Situation der Nachkriegszeit.

Was aber im Laufe der Geschichte von damals bis heute tatsächlich geschah, hat zu Ergebnissen geführt, die sich von den ursprünglichen Deklarationen und Bestrebungen deutlich unterscheiden. Seit den 1970er Jahren – der Zeit der letzten internationalen Finanzkrise (vor der heutigen) – greifen Regierungen und die EU-Bürokratie mit wachsender Intensität die sozialen Rechte der Arbeitnehmer der europäischen Gesellschaften an. Nach dem Mauerfall wurde der Antikommunismus zu einer allumfassenden Doktrin aufgebaut, die zur Wiedereingliederung neo- oder postfaschistischer Kräfte in europäischen politischen Systemen beigetragen hat. Dies geschah nicht nur in den postkommunistischen Regimen Osteuropas, sondern vor allem auch in Ländern wie Italien, Österreich oder Frankreich, wo sich rechtsextreme Parteien seit den 90er Jahren als potenzielle Machtparteien oder Regierungspartner durchzusetzen begannen.

In diesem Sinne geht es heute nicht gerade oder nicht ausschließlich um eine Art historischer Amnesie, sondern um die Rückkehr einer unterdrückten Erinnerung: die Tatsache, dass Faschismus und Nazismus Massenphänomene waren, die von Teilen der europäischen politischen und wirtschaftlichen Eliten gefördert oder unterstützt wurden und einen großen Teil der europäischen Gesellschaften in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Krise des Parlamentarismus mobilisieren konnten.

Haben Ihrer Meinung nach die Institutionen der liberalen Demokratie zur Prägung der Grundwerte/ Grundsätze des Humanismus und der Aufklärung im kollektiven Bewusstsein der Europäer beigetragen oder ist ihnen dieses Projekt misslungen?

Die liberale Demokratie, die sich als politisches Regime unter der Hegemonie der aufstrebenden bürgerlichen Klassen herausgebildet hat, ist eine der Regierungsformen der modernen europäischen Gesellschaften, nicht die einzige und – aus einer breiteren historischen Perspektive – auch nicht die dominierende. Seit der Französischen Revolution, oder zumindest seit dem „Völkerfrühling“ von 1848, bilden die verschiedenen Formen liberaler parlamentarischer Republiken ein Konfliktfeld, auf dem einerseits verschiedene wirtschaftliche und politische Oligarchien versuchen, die Grenzen der Demokratie einzuschränken, und andererseits Arbeits- und Volksbewegungen danach streben, dieselben Grenzen in Bezug auf soziale Rechte und politische Institutionen zu erweitern.

Humanismus und Aufklärung waren selbst mehrdimensionale intellektuelle Bewegungen mit unterschiedlichen Ansätzen und gegensätzlichen möglichen Tendenzen. Folglich wurden die Werte von Humanismus und Aufklärung in den sich verändernden historischen Konjunktionen immer unterschiedlich und im Zuge des oben erwähnten Konfliktfelds auch immer in hohem Maße widersprüchlich interpretiert. In Zeiten sinkender Gewinnraten neigten die Eigentumsklassen beispielsweise dazu, sich auf die Seite der Politik der Einschränkung sozialer und politischer Rechte zu stellen und Ideen für das „Überleben der Stärksten“ zu propagieren, um ihre dominante Position in der Gesellschaft zu behaupten oder zu verstärken. Hier sind wir heute: Der Weg, der vor uns liegt, scheint immer schwieriger zu werden, aber das Ergebnis des Kampfes um echte Demokratie und internationalen Frieden ist bei weitem nicht im Voraus gegeben.

Was könnte Ihrer Meinung nach die Rolle Griechenlands und Österreichs in Bezug auf die europäische Integration und die Festigung der humanitären Werte und der sozialen Solidarität zwischen den Völkern Europas sein?

In jedem Land gibt es Kräfte, die die soziale Gerechtigkeit und die Demokratie fördern, und Kräfte, die sich ihnen widersetzen und sie untergraben. Österreich und Griechenland bilden da keine Ausnahme. Ich glaube dennoch, dass es in beiden Ländern lebendige intellektuelle und politische Traditionen von Verfechtern demokratischer Werte gibt, die eine wichtige Rolle spielen müssen, um die anhaltende reaktionäre Mutation des europäischen Einigungsprojekts zu stoppen.

Was die spezifische Situation betrifft, so kann ich nicht erkennen, wie die bestehenden Strukturen der EU den notwendigen Handlungsspielraum für Reformen von innen bieten können. In diesem Sinne wäre eine wirksame Opposition die dringendste Pflicht in dieser Richtung, um die Regierungspolitik des Sozialabbaus, der Austerität und der „Festung Europas“ zu stoppen und der Internationalisierung der Solidarität, der vollen Demokratie, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit den Weg zu ebnen.