Die Leiterin der „Arolsen Archives“, des internationalen Archivs und Dokumentationszentrums über NS-Verfolgung und die befreiten Überlebenden, Frau Floriane Azoulay, ist Gast in der Redaktion von GRIECHENLAND AKTUELL. Sie erklärt uns, dass die „Arolsen Archives“ dafür entstanden sind, um die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Schicksale der Opfer sowie die Beweise über die Gräueltaten der NS-Verfolgung zu dokumentieren. Gegründet wurden sie von den Alliierten als „International Tracing Service“, seit Mai 2019 treten sie unter dem neuen Namen „Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution“ auf. Das Archiv (Sitz in Bad Arolsen, Deutschland) verfügt über eine Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen (Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes, auch persönliche Gegenstände von knapp 3.000 ehemaligen KZ-Häftlingen), welche zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehört. Frau Azoulay unterstreicht in ihrem Interview mit GRIECHENLAND AKTUELL, dass die „Arolsen Archives“ Anfragen zu rund 20.000 NS-Verfolgten jährlich beantworten, und beschreibt, wie persönliche Gegenstände den Angehörigen der Opfer der NS-Zeit zurückgegeben werden. Unter den Effekten der Sammlung gibt es auch Gegenstände, die griechischen Häftlingen gehörten. Diese waren in der im griechischen Außenministerium in Athen gezeigten Ausstellung #StolenMemory zu sehen (Februar 2019), welche im Rahmen einer Konferenz über die Institution im griechischen Außenministerium eröffnet wurde. Anlass für die Konferenz, die vom griechischen Staatsminister für Auswärtige Angelegenheiten Markos Bolaris eröffnet wurde -wie auch die o.g. Ausstellung-, war der diesjährige griechische Vorsitz des Internationalen Ausschusses, welcher die Richtlinien für die Arbeit der „Arolsen Archives“ erstellt und sich aus Regierungsvertretern von elf Mitgliedstaaten zusammensetzt.

Die „Arolsen Archives“ bauen ein umfangreiches Online-Archiv auf, machen Dokumente weltweit zugänglich und bleiben heutzutage eine zentrale Wissensquelle für jüngere Generationen. Ende Mai 2019 werden rund zwölf Millionen Dokumente online stehen. Frau Azoulay ist fest davon überzeugt, dass die Dokumente und die Gegenstände Türen für Erinnerung und Gedenken öffnen und dass die Geschichten der NS-Verfolgten immer wieder neu erzählt werden müssen, um heutzutage mehr Aufmerksamkeit auf die Folgen von Intoleranz, Hass und Diskriminierung zu lenken.

 Floriane Azoulay leitet die Arolsen Archives seit 2016. Foto: Arolsen Archives

 

Hier das Gespräch:

 

Frau Azoulay, könnten Sie uns erklären, was die Arolsen Archives sind? Worum geht es? Wer verwaltet dieses Archiv?

Die Arolsen Archives sind ein internationales Zentrum über NS-Verfolgung. Es handelt sich um das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und den Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Sie beinhaltet Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes und ist eine wichtige Wissensquelle, besonders auch für jüngere Generationen.Und es ist ein lebendiges Archiv, das weiterwächst, denn mit den Anfragen von Angehörigen, mit allen Hinweisen, die wir erhalten, sammeln wir auch immer mehr Informationen über NS-Verfolgte.

Die Alliierten haben die Institution in der frühen Nachkriegszeit gegründet. Heute bilden Regierungsvertreter der elf Mitgliedstaaten, darunter Griechenland, den Internationalen Ausschuss, der unsere Arbeit im Sinne der ehemals Verfolgten überwacht. Finanziert werden wir durch die deutsche Bundesregierung, genau gesagt aus dem Etat der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

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Die Arolsen Archives bewahren die weltweit umfassendste Sammlung zu den Opfern und den Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Dokumente gehören seit 2013 zum UNESCO Weltdokumentenerbe „Memory of the World“. Foto: Arolsen Archives

 

Wofür wird dieses riesige Archiv, das in Ihren Händen ist, genau genutzt?

Jährlich beantworten die Arolsen Archives Anfragen zu rund 20.000 NS-Verfolgten. Das ist eine zentrale Aufgabe, denn viele Menschen in Polen und Osteuropa, aber auch in Spanien, Griechenland und Frankreich wissen bis heute nicht, was mit ihren Großeltern, Eltern, Tanten oder Onkeln nach der Deportation durch die Nationalsozialisten geschah. Das ist kaum vorstellbar, aber so ist es. Mit den Dokumenten in unserem Archiv können wir in vielen Fällen Auskünfte geben. Ab und zu gelingt es sogar, Familien zusammenzuführen. Dies ist ein Teil unserer Arbeit, seit mehr als sieben Jahrzehnten. Angehörige erhalten heute immer Kopien aller Dokumente, die über das jeweilige Schicksal Auskunft geben.

Wichtiger denn je sind zudem die Angebote für Forschung und Bildung, um das Wissen über den Holocaust, Konzentrationslager, Zwangsarbeit und die Folgen der Nazi-Verbrechen in die heutige Gesellschaft zu bringen. Die Arolsen Archives bauen ein umfangreiches Online-Archiv auf und machen die Dokumente weltweit zugänglich. Ende Mai werden rund zwölf Millionen Dokumente online stehen. Das hat eine hohe Priorität, denn der Wert dieser Sammlung steigt, je mehr Menschen sich mit den Dokumenten über die NS-Verfolgung informieren.

Es gibt aber nicht nur Dokumente, sondern auch Gegenstände von KZ-Häftlingen im Archiv. Wie finden sie den Weg zu den Angehörigen der damaligen Opfer der Nazizeit? Wie reagieren die Betroffenen?   

Ja, das ist ein ganz besonderer Bestand. In unserem Archiv befinden sich noch persönliche Gegenstände von knapp 3.000 ehemaligen KZ-Häftlingen. Es sind Taschen- und Armbanduhren, Ringe, Brieftaschen, Familienfotos und Alltägliches wie Kämme oder Puderdosen, die den Menschen bei ihrer Inhaftierung von den Nationalsozialisten abgenommen wurden. Sie stammen überwiegend aus dem KZ Neuengamme, eine geringere Anzahl auch aus dem KZ Dachau. Wir haben diese sogenannten Effekten 1963 von deutschen Behörden erhalten. Sie gehören Menschen aus über 30 Ländern, überwiegend aus Polen, Deutschland und der damaligen Sowjetunion. Es sind verschiedenste Häftlingskategorien darunter: Politische Häftlinge, Juden, Sinti, Schutzhäftlinge, sogenannte „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“. Viele der Inhaftierten waren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Osteuropa.

Die Effekten sind nicht Teil des Archivs, sondern sind uns mit der Auflage ausgehändigt worden, die Gegenstände an Überlebende oder die Familien von NS-Opfern zurückzugeben. Bis 1974 gelang es, durch aktive Suche rund 1.450 der ursprünglich 5.000 Effekten auszuhändigen. Danach sank die Zahl der Rückgaben, die damalige Leitung stellte die Recherchen ein. Rückgaben erfolgten nur noch, wenn bei Anfragen festgestellt wurde, dass Effekten existieren.

Als wir die Fotos und Namen 2015 in unserem Online-Archiv veröffentlichten, gab es eine Welle der Hilfsbereitschaft bei der Suche nach Angehörigen der NS-Verfolgten. Durch Social Media und die Onlinestellung von Archivbeständen, zum Beispiel Adressbücher in Stadtarchiven, bieten sich heute bei der Recherche viel mehr Möglichkeiten. Gemeinsam mit Freiwilligen aus Deutschland, Polen, den Niederlanden, Neuseeland, Frankreich, Spanien und Norwegen recherchieren wir und konnten bis Mai 2019 rund 300 Effekten an Familien aushändigen. Auch Journalisten beteiligen sich oft an den Nachforschungen.

Für die Angehörigen ist die Rückgabe der Gegenstände sehr emotional. Die Familiengeschichte wird dadurch greifbar. Kinder können sich manchmal sogar an die Uhr des Vaters erinnern, oder es finden sich Familienfotos von Angehörigen, von denen es bis dahin kein Bild gab. Die Gegenstände sind oft der Schlüssel für Erinnerung, vor allem, wenn in den Familien wenig über das Verfolgungsschicksal bekannt war.

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Die Mappe mit 28 Fotografien diente bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher als Beweismaterial („Exhibit B-1“). Foto: Arolsen Archives

 

Gibt es Dokumente über oder Gegenstände von Griechen in diesem Archiv? Werden sie den Angehörigen der Opfer zurückgegeben oder werden die Angehörigen entsprechend informiert? Gibt es vielleicht einige dazugehörende Beispiele?

Es gibt in unterschiedlichen Beständen Unterlagen zu griechischen NS-Verfolgten: Nachweise über griechische Juden, die in Konzentrationslager verschleppt wurden, über Zwangsarbeiter, aber auch über Überlebende und deren Lebensweg nach der Befreiung.

Auch unter den Effekten gibt es Gegenstände, die griechischen Häftlingen gehörten. Diese waren in der im Außenministerium in Athen gezeigten Ausstellung #StolenMemory zu sehen und können auch in unserem Online-Archiv recherchiert werden. Durch die Ausstellung in Griechenland konnte zum Beispiel eine ausgewanderte Familie in Australien gefunden werden. Selbstverständlich händigen wir nach erfolgreicher Recherche die Gegenstände an die Familien aus. Manchmal kommen Angehörige extra dafür zu uns nach Bad Arolsen, weil sie die Besitzstücke gerne persönlich entgegennehmen möchten.

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Es gibt auch Dokumente zu griechischen NS-Verfolgten in der Sammlung der Arolsen Archives. Hier eine Identifikationskarte des Holocaust-Überlebenden Daniel Manu aus Saloniki. Als er 28 Jahre alt war, wurde er nach Auschwitz deportiert und später nach Dachau. Er überlebte als einziges Mitglied seiner Familie. Sig: Identifikationskarte für Displaced Person/Flüchtling, 05.10.1948, 3.1.1.1/68170117/ITS Digital Archive, Arolsen Archives. Foto: Arolsen Archives

 

Was halten Sie von der Bedeutung dieses Verfahrens für die Bewahrung des Gedächtnisses und die Verbreitung des Wissens über die Ereignisse des 2. Weltkrieges heutzutage?

Die Rückgabe der persönlichen Gegenstände an Familien ist etwas ganz Besonderes. Nur dabei recherchieren wir selbst und suchen aktiv den Kontakt zu Familien. Das können wir bei den Dokumenten über viele Millionen Menschen natürlich nicht leisten. Die Erfahrungen von #StolenMemory zeigen uns aber, dass wir alles daransetzen müssen, deutlich bekannter zu werden. Wir müssen weltweit darüber informieren, dass es in unserem Archiv Informationen über alle NS-Opfergruppen gibt. Dann können wir einen aktiven Beitrag dazu leisten, dass Familien endlich Gewissheit bekommen. Ein Holocaust-Überlebender hat das Archiv einmal als ein Denkmal aus Papier bezeichnet. Das ist ein sehr treffendes Bild: Oft finden Familien in den Dokumenten Informationen über den Verfolgungsweg, eine letzte Unterschrift, manchmal auch Fotos.

Aber Ihre Frage bezog sich ja auch auf die Rückgabe der persönlichen Gegenstände. Um über die NS-Verfolgung und die Auswirkungen der Verbrechen zu informieren, haben wir die Plakatausstellung #StolenMemory entwickelt. Die Ausstellung bietet über die Verknüpfung von Erinnerungsstücken und persönlichen Schicksalen einen emotionalen Zugang. Außerdem zeigt die Ausstellung – obwohl mehr als sieben Jahrzehnte vergangen sind – die große Relevanz für die heutige Zeit. Die Gegenstände öffnen Türen für Erinnerung und Gedenken. Interessant ist zudem die Darstellung der europaweiten Dimension von NS-Verfolgung und die Vielzahl der betroffenen Verfolgtengruppen. Das Wissen über die NS-Zeit nimmt deutlich ab. Viele Menschen denken bei Konzentrationslagern zum Beispiel ausschließlich an die Ermordung der Juden. Dass andere Opfergruppen ebenfalls verfolgt und ermordet wurden, ist weniger bekannt. Ausstellungen wie #StolenMemory sind einfach zu verstehen und vermitteln Wissen auch an Menschen, die sich eigentlich nicht für Geschichte interessieren.

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Durch die Ausstellung #StolenMemory in Athen meldeten sich Angehörige von Nicolaus Fassuliotis. Seine persönlichen Gegenstände werden jetzt an die Familie ausgehändigt. Foto: Arolsen Archives
 

In diesem Jahr hat Griechenland den Vorsitz des Internationalen Ausschusses inne. Welche Initiativen werden in diesem Rahmen ergriffen? Wie arbeiten die „Arolsen Archives“ mit Behörden und Institutionen oder privaten Partnern in Griechenland zusammen, die sich mit dem gleichen Thema befassen?

Die Vorsitzende des Internationalen Ausschusses, Photini Tomai, unterstützt uns sehr aktiv in unseren Anstrengungen, die Arolsen Archives sichtbarer zu machen und in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Ende Februar fand in Athen eine Konferenz statt, in der wir unsere aktuellen Projekte einem Publikum aus Politik, Wissenschaft, Bildung und interessierter Öffentlichkeit vorstellen konnten.  Auch an dem Seminar „Teaching about the Holocaust in Greece“ des Jüdischen Museums Griechenland hat ein Mitarbeiter der Arolsen Archives teilgenommen und Bildungs- sowie Kooperationsangebote vorgestellt. Es besteht die Möglichkeit, dass griechische Forscher über Fernzugriff in unserer Datenbank arbeiten. Mit dem Jüdischen Museum Griechenland haben wir einen Kooperationsvertrag unterzeichnet – ein erster Schritt, um die Zusammenarbeit zwischen griechischen Institutionen und den Arolsen Archives zu stärken. Gemeinsam werden wir pädagogische Materialien entwickeln. Es ist denkbar, dass dafür zum Beispiel biographische Quellen des Jüdischen Museums mit den entsprechenden Dokumenten aus unserem Archiv verbunden werden. Im Juni wird dann die Sitzung des Internationalen Ausschusses in Athen stattfinden. Auch davon erhoffen wir uns, die Verbindungen weiter zu intensivieren.

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In den Arolsen Archives befinden sich auch persönliche Gegenstände von griechischen KZ-Häftlingen, zum beispiel von Dimitrius Watiadis. Foto: Arolsen Archives

 

In Zeiten nicht nur zunehmender Fremdenfeindlichkeit, sondern auch einer anhaltenden Leugnung des Holocausts in manchen Ländern, woran liegt, Ihrer Ansicht nach, der besondere Wert der Arolsen Archives?

Die Arolsen Archives sind entstanden, um die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Schicksale der Opfer zu dokumentieren. Sie sind ein Ort der Wahrheit, an dem die Beweise über die Gräueltaten der NS-Verfolgung aufbewahrt werden. Das wird immer wichtiger, weil immer weniger Zeitzeugen am Leben sind. Die Arolsen Archives sind deshalb eine zentrale Wissensquelle für jüngere Generationen.

Wir sehen die Veränderungen in der Gesellschaft und damit neue Aufgaben – in einem Europa, das auf der einen Seite von Migration geprägt ist und auf der anderen Seite von zunehmender Intoleranz. Es ist unsere Aufgabe Interesse zu wecken und das Wissen aus den Dokumenten mit dem Alltag junger Menschen zu verknüpfen. Die Geschichten der NS-Verfolgten müssen erzählt werden, und zwar immer wieder und immer wieder neu. Nur so können wir bei kommenden Generationen das Wissen wachhalten. Selbstverständlich wissen wir noch nicht, welche Fragen zukünftige Generationen an uns richten werden, aber wir müssen sicherstellen, dass sie weiterhin fragen.

Wir haben eine Reihe neuer Projekte gestartet und andere in Vorbereitung, um mehr Aufmerksamkeit auf die Folgen von Intoleranz, Hass und Diskriminierung zu lenken. Das ist eine wichtige Aufgabe in Zeiten, in denen mehr und mehr Politiker Vorurteile schüren und Demokratien schwächen.

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Das Logo der Arolsen Archives. Foto: Arolsen Archives

 

Links:

– Die neue Webseite der Arolsen Archives steht ab dem 21. Mai online :

https://arolsen-archives.org

Bis dahin finden Sie Informationen über die Institution unter:

https://www.its-arolsen.org

-Außenministerium der Hellenischen Republik : https://www.mfa.gr/en/current-affairs/news-announcements/greek-chairmanship-of-the-arolsen-archives-presenting-to-greece-the-international-centre-on-nazi-persecution-ministry-of-foreign-affairs-27-february-2019-2.html  

 

 

Das Interview führte Chrysoula Archontaki