Anlässlich des griechisch-deutschen Lyriksymposiums Syn-Energy Athen-Berlin, welches Anfang April 2019 in Athen stattgefunden hat, waren die Kuratorin internationaler Literaturprojekte Linde Nadiani und der Autor und Mitbegründer des Berliner Literaturhauses Lettrétage Tom Bresemann zu Gast beim „GRIECHENLAND_AKTUELL“. Linde Nadiani hat die Stimmenvielfalt der zeitgenössischen Lyrik äußerst als bemerkenswert und sehr spannend bezeichnet und hat uns erklärt, dass die neuen digitalen Kommunikationsmittel, Plattformen und soziale Medien durchaus dabei helfen, Poesie neu zu entdecken und das jüngere Publikum dafür zu begeistern. Tom Bresemann hat zusätzlich betont, dass zur Verbreitung der Poesie und der Literatur das Engagement sehr wichtig bleibt und dass heutzutage der digitale Markt die Werkzeuge, mit denen man sich engagiert, verändert hat. Linde Nadiani hat auch bestätigt, dass es heute ein Interesse für deutsche und griechische Literatur in beiden Sprachräumen gibt. Sie hofft auf noch mehr griechisch-deutsche Initiativen und Förderungsprogramme, welche die aktuellen literarischen Produktionen beider Sprachräume in einem Verhältnis setzen und wechselseitig auf ästhetisch gewinnbringende Impulse überprüfen.

Linde Nadiani by Jetmir Idrizi / Quelle: Lettrétage

Hier das  Gespräch :

Anlässlich des Lyriksymposiums Syn-Energy Athen-Berlin, welches Anfang April in Athen stattgefunden hat, und Ihrer Tätigkeit im Bereich Literatur und Poesie beim Lettrétage Berlin, wie populär ist die Poesie heute, Ihrer Meinung nach? Gibt es heutzutage „Raum“ für die Poesie, klassisch und zeitgenössisch, in unserem Leben?

Linde Nadiani: Das von Lettrétage und Diablog Vision in Berlin initiierte griechisch-deutsche Literatursymposium SYN_ENERGY Berlin_Athens, fand eine sehr anregende Fortsetzung in Athen, in Form eines vom Geothe-Instituts ausgerichteten Symposium zur Gegenwartslyrik. Dies war ein fruchtbarer Anlass, um über die Position und Rolle von Poesie und Lyriker*innen/Lyrikverleger*innen in Griechenland und Deutschland zu diskutieren. Meiner Meinung nach ist Poesie im öffentlichen Kulturdiskurs immer noch etwas unterrepräsentiert bzw. könnte sie noch populärer sein, aber einen „Raum“ für klassische und zeitgenössische Poesie gibt es heutzutage in unserem Leben durchaus, wenn nicht sogar mehr als früher. Die Stimmenvielfalt der zeitgenössischen Lyrik ist äußerst bemerkenswert und sehr spannend, Literaturpreise werden mittlerweile zum Glück nicht mehr hauptsächlich an Prosa- und Sachbuchautor*innen vergeben werden, sondern auch an Lyriker*innen und es gibt im In- und Ausland viele Veranstaltungsreihen und Literaturprojekte die sich mit der Vermittlung von Poesie, auch an ein größeres Publikum, beschäftigen. Vor Kurzem fand z. B. in Frankfurt am Main zum ersten Mal auch ein Festivalkongress statt, der sich nur Poesie in allen ihren Facetten und Aspekten widmete, der Fokus Lyrik Kongress. Dort wurden über mehrere Tage Lesungen und interdisziplinäre Aufführungen gezeigt sowie über die Poetik von Dichtkunst heute und die Funktion von Lyrik und Lyrikkritik diskutiert. Neben der großen Beliebtheit performativer Präsentation vor Poesie, z. B. durch Performances und Installationen, bieten auch die vielen neuen digitalen Kommunikationsmittel, Plattformen und soziale Medien Lyriker*innen viel mehr Möglichkeiten ihre Texte zu streuen und zu veröffentlichen.  

SYN ENERGY ATHEN BERLIN 02042019 Bild aus dem griechisch-deutschen Lyriksymposium Syn-Energy Athen-Berlin (April 2019, Athen)

Im heutigen digitalen Zeitalter verbringt der Leser im Durchschnitt viel Zeit täglich im Netz, insbesondere in den sozialen Medien. Könnten die moderne Technologie und die digitalen Instrumente den Leser dabei helfen oder sogar mobilisieren, Gedichte zu lesen, aktiv über Gedichte zu diskutieren oder die Poesie neu zu entdecken?

Linde Nadiani: Es gibt natürlich viele Meinungen und Positionen zur Sinnhaftigkeit und dem Nutzen oder auch nicht der modernen Technologie in Bezug auf Audience Development im Literaturbereich. Das Projekt der slowenischen Autorin Nina Medved „Poetisches Chapbook im Digitalen Zeitalter“, welches zu Beginn des Jahres in der Lettrétage stattfand, zeigt, dass es durchaus eine recht große Anzahl an Autor*innen und Leser*innen gibt, die soziale Netzwerke und digitale Plattformen nutzen, um neue Textformate auszuprobieren und wahrzunehmen oder darüber zu diskutieren. Insbesondere auf Instagram und in persönlichen Autor*innenblogs ist es möglich, spannende Künstler*innen zu entdecken und zum Teil interessante oder schräge Leser*innenkommentare zu lesen.  Durch die moderne Technologie kann auch jede*r innerhalb weniger Clicks „Autor*in/Künstler*in“ werden und dieser Fakt bietet durchaus einen Anlass für Diskussionen rund um das Thema Qualität und Legitimation. Grundsätzlich können digitale Mittel meiner Meinung nach aber dabei helfen, Poesie neu zu entdecken und zum Beispiel Digital Natives, also das jüngere Publikum, dafür zu begeistern.

Halten Sie es für möglich, dass sowohl die Verbreitung der Poesie, insbesondere der zeitgenössischen Poesie, im Internet als die neue Publikationsformen für Poesie, den klassischen Kaufakt von Bücher in der Zukunft eventuell völlig ersetzen werden?

Tom Bresemann: Selbstverständlich ist das möglich. Der gesamte Literaturmarkt ist wie jeder Markt ein veränderbarer. Es ist für mich kaum abzusehen, wie diese Veränderungen aussehen werden. Ich glaube bsp. das E-Book hat sich nicht durchsetzen können. Das wird also eher kein Zukunftsmodell. Jedoch: Die wenigste Lyrik wurde in Deutschland in den letzten Jahrzehnten über den klassischen Buchhandel verkauft, wage ich zu behaupten. Stattdessen ist eine lebendige Indie-Verlagsszene entstanden, die über Direktansprache, Netzwerke und Live-Veranstaltungen verkauft. Ich denke, Lyrik hat immer schon eine soziale Komponente, neben der einsamen Lektüre. Diese soziale Komponente mit digitalen Elementen und klassisschen stationären Buchhandel zusammenzudenken, bietet einiges an Potential. Jedoch ist klar, dass weder der klassische Buchhandel noch der digitale Markt einen Lyrik-Kleinstverlag trägt, tragen wird oder je getragen hätten. Es ging schon immer um Engagement, um ein Mehr an persönlichem Einsatz und Streben. Das ist eine Konstante, die auch der digitale Markt nicht verändern kann. Was der digitale Markt verändert, sind die Werkzeuge, mit denen man sich engagiert.

SYN ENERGYGroup by Nelly Tragousti Syn-Energy-Gruppe by Nelly Tragousti / Bild aus dem griechisch-deutschen Lyriksymposium Syn-Energy Berlin-Athens (Oktober 2018, Berlin)

Die Lyriker*innen benutzen die Sprache in besonderer Weise. Was für eine Sprache benutzen die Lyriker heute im Netz? Gibt es Unterschiede zwischen der Sprache in Papierform und der Sprache in digitaler Form? Wie entwickelt sich die literarische bzw die poetische Sprache heute, Ihrer Meinung nach? Was könnte das Publikum in der Zukunft erwarten? 

Tom Bresemann: Die poetische Sprache hat sich schon immner aus vielen Quellen gespeist. Die digitale Welt befördert und viralisiert diese Zugriffe. Im Gedicht ist erstmal alles erlaubt, es wird gespielt während die Regeln des Spiels entwickelt werden. Vielleicht ist sogar die Formgebung, die Entwicklung des Spiels Hauptinhalt des Spielens selbst, in der Lyrik. Da sehe ich eine Parallele zur digitalen Welt, die erstmal eine Welt der Möglichkeiten darstellt. Die Formen der Nutzung dieser Möglichkeiten sind vielfältig, krisenhaft, problematisch und inspirierend zugleich. So wie die Lyrik, die in Auseinandersetzung mit Neuen Medien und ihrem Sprachgebrauch, sowie digitalen Tools entsteht. Daneben steht der Sachverhalt, dass auch Programmieren an sich mit Sprache funktioniert und arbeitet. Visionär wäre also die Annahme, dass die Sprache der Gedichte auch auf diese Welt zugreifen wird, spätestens wenn Programmier*innen Gedichte schreiben. Das Netz an sich ist ja ein Medium, also erstmal neutral, ein Gefäß, wie das Buch. Jedes Gefäß bringt wiederum eigene Beschränkungen oder Umstände mit sich. Mein Plädoyer wäre, diese Umstände der neuen Medien erstmal zu erkosten, bevor man sie in Verwertungsketten oder gar als Bedrohungsszenarien denkt. Netzliteratur gibt es genauso wenig wie Frauenliteratur. Es gibt nur Literatur. Jedes Gedicht kann alles, was es will, mit allem, was es will. Lyrik als Form der offenen Ausgestaltung, der Kommunikation auf Augenhöhe erobert sich durch digitale Formen neue Spielwiesen.

Sprechen wir über die Griechische und die Deutsche Lyrik. Gibt es Interesse in Deutschland  an der griechischen Poesie, natürlich übersetzt auf Deutsch, und umgekehrt? Was für ein Spielraum gibt es für Lyriker*innen aus beiden Ländern in diesem Bereich heute?

Linde Nadiani: Die internationale und somit auch die deutsche Wahrnehmung zeitgenössischer neugriechischer Literatur liegt im Vergleich zur aktuellen Entwicklung um Jahrzehnte zurück. Griechische Autor*innen haben jedoch gerade in den vergangenen Jahren ein beeindruckendes Repertoire an neuen Textsorten, Schreibstrategien und intermedialen Präsentationsformaten entwickelt, die in Deutschland zum großen Teil unbekannt sind. Zweisprachige Webportale wie Diablog.eu, initiiert und geleitet durch die Übersetzerin für die griechische Sprache Michaela Prinzinger, leisten bereits einen sehr wichtigen Beitrag zur Konsolidierung und zeitgemäßen Weiterentwicklung der griechisch-deutschen Kultur- und Literaturbeziehungen. Es gibt durchaus ein Interesse für deutsche und griechische Literatur in beiden Sprachräumen: Durch das große Engagement vieler Übersetzer*innen, Autor*innen und Verleger*innen konnten etliche neue Textprojekte realisiert und übersetzt werden. Es bräuchte allerdings noch mehr Initiativen und Förderungsprogramme, die aktuelle literarische Produktionen beider Sprachräume in ein Verhältnis setzen und wechselseitig auf ästhetisch gewinnbringende Impulse überprüfen, wie zum Beispiel das oben genannte Projekt SYN_ENERGY BERLIN_ATHENS (unterstützt durch den Hauptstadtkulturfonds, der Stavros Niarchos Foundation und der Griechischen Botschaft Berlin):  An drei Konferenztagen führte das Symposium über 20 Autor*innen und Übersetzer*innen aus dem griechischen und deutschen Sprachraum zusammen, mit öffentlichen Lesungen und Diskussionen an vier Abenden initiierte das Projekt außerdem eine den aktuellen literarischen Entwicklungen zeitgemäße Rezeption in der deutschsprachigen Öffentlichkeit.

Dazu : Teaser-Video SYN_ENERGY Berlin_Athens

Lettretage Collage 

Das Literaturhaus Lettrétage setzt mit kuratierten Projekten seit 2006 innovative Impulse für die Literaturmetropole Berlin. Die Erprobung neuer Formen der Produktion und Präsentation von Literatur steht dabei im Mittelpunkt. Als Ankerinstitution der Freien Literaturszene Berlin ist es ein zentraler Bestandteil des Lettrétage-Programms die Lebendigkeit und Vielfalt der Literaturszene in Berlin zu erhalten, ihr ein Podium zu bieten und sie darüber hinaus durch kostenfreie Beratungs- und Weiterbildungsangebote strukturell zu stärken. Im Rahmen des europaweiten Literaturnetzwerks CROWD führt die Lettrétage mit internationalen Organisationen Projekte durch, die der sprach- und länderübergreifenden Vernetzung von Literaturschaffenden sowie der publikumsnahen, zeitgemäßen Präsentation internationaler zeitgenössischer Literatur dienen.

Linde Nadiani, geboren 1987 in Faenza (Italien) studierte Germanistik und Amerikanistik an der Universität Bologna und anschließend Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin. Seit 2010 lebt sie in Berlin, wo sie als Kuratorin internationaler Literaturprojekte sowie Moderatorin tätig ist. Im Auftrag der Lettrétage leitete sie u. a. die europaweite Autorenlesebusreise OMNIBUS Reading Tour und gemeinsam mit Michaela Prinzinger das griechisch-deutsche Literatursymposium SYN_ENERGY Berlin_Athens.

Tom Bresemann, publiziert seit 2004 hauptsächlich Gedichte bzw. poetische Textformate. Veröffentlichte drei Gedichtbände. Seit 2017 erscheint sein Textprojekt „von jeglichem wort, das durch den mund den menschen vernewet“ sowohl digital (#vonjeglichemwort) als auch analog (experimentelle Chapbooks, Vinyl u.a.). Mitbegründer der Lettrétage. Mehr Info: http://www.literaturport.de/Tom.Bresemann

 

Das Interview führte Chrysoula Archontaki