Das polyphone (mehrstimmige) Lied von Epirus ist eines der bedeutendsten Beispiele im Repertoire der weltweiten polyphonen Musik. Es handelt sich dabei um eine lebendige Tradition und ein Element der kulturellen Identität der Bevölkerung in der Grenzregion Epirus sowie der griechischen Minderheit in Albanien. Die polyphonen Volkslieder stammen aus dieser Region. Innerhalb des heutigen griechischen Staatsgebiets ist die epirotische Polyphonie mit ihren eigenständig geführten Stimmen einzigartig.

Die polyphonen (mehrstimmigen) Volkslieder entwickelten sich parallel zur byzantinischen Musik, weisen jedoch eine Affinität zu anderen Formen der Polyphonie auf, wie beispielsweise der albanischen. Forscher haben das polyphone Lied von Epirus einem breiteren Spektrum von Regionen zugeordnet, in denen Polyphonie praktiziert wird. Dazu gehören der Balkan, der Kaukasus, der nördliche Iran, Afghanistan, Nordindien und Indonesien. Polyphone Lieder sind durch lokale Unterschiede in Stil und Struktur gekennzeichnet. Eine polyphone Gruppe besteht in der Regel aus fünf bis sieben Sängerinnen und Sängern, die bestimmte Rollen übernehmen..
Das polyphone Lied von Epirus ist in den Grenzgebieten von Epirus und in Südalbanien weit verbreitet. Es handelt sich um eine lebendige Tradition in vielen Dörfern der Gegend von Pogoni und Ano Pogoni in der ehemaligen Präfektur Ioannina, Mourgana und Filiates in der ehemaligen Präfektur Thesprotia sowie den Dörfern Konitsa. Es findet sich auch auf der „anderen“ Seite der griechisch-albanischen Grenze, in den Dörfern Deropolis, Ano Pogoni, Theologos (Riza), Vourkos und Himara, die von der griechischen Minderheit in Südalbanien bewohnt werden.


Je nach Region kommen homophone, zweistimmige, dreistimmige und vierstimmige Lieder sowie auch Lieder mit Instrumentenbegleitung vor. Ihre Themen können sich auf Liebe, Einwanderung, Geschichte, Ehe, Karneval, Kinder usw. beziehen.
Die Wirkung des Genres ist verbunden mit der Direktheit des Ausdrucks und der Intensität der Performance. Das polyphone Lied ist seit jeher ein unverzichtbarer Bestandteil des täglichen Lebens der Bewohner gewesen. Es begleitete ihre Arbeit, ihre gemeinsamen Tätigkeiten auf den Feldern und in der Viehzucht, die Bräuche und die bedeutenden Ereignisse ihres Lebens. In den letzten Jahrzehnten wurden polyphone Lieder vor allem bei den Feierlichkeiten der lokalen Gemeinschaften aufgeführt. Dabei bewahren sie ihren Charakter als Lieder, die sich auf traditionelle Bräuche beziehen, wie etwa Feste, Hochzeiten, Taufen usw.
Die Etablierung der lokalen Gesellschaften, die Bedeutung der Familie, die Rolle der beiden Geschlechter in den verschiedenen Entwicklungsstadien des Genres und auch sein Wertkodex hängen mit der Struktur der Gruppen, der Rollenverteilung, der kollektiven Disziplin und der Selbstregulierung in der Interpretation der Lieder durch die Gruppe zusammen. Die Weitergabe des polyphonen Lieds von einer Generation zur nächsten basiert auf mündlichen Überlieferungen und wird heutzutage durch kulturelle Veranstaltungen, internationale Begegnungen, Musikfestivals, Kurse und Musikaufführungen verbreitet..
Der Gesangsstil wurde 2005 in die UNESCO-Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit eingetragen und 2008 in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.
Die ersten akustischen Belege für die Aufnahme des Genres reichen bereits bis ins Jahr 1928 zurück. Später wurden polyphone Gruppen aus dem Dorf Ktismata in Pogoni von Simon Karas und Domna Samiou aufgenommen. Im Jahr 1993 wurden die ersten Kurse am Museum für griechische Volksmusikinstrumente Phoebus Anoyanakis organisiert, und ab 1996 entstanden bemerkenswerte polyphone Gruppen. 1999 wurde das Internationale Polyphone Gesangsfestival institutionalisiert, und gleichzeitig fand in Pogoni und Filiates das erste Internationale Treffen des Polyphonen Gesangs statt. Im Jahr 2003 wurde das Archiv des Polyphonen Liedes gegründet.


Die Gesangsgruppen bestehen aus mindestens vier Personen, Männern und Frauen. Das Lied wird in zwei, drei, vier oder fünf Stimmen Gesungen. Rolle und Technik jedes Sängers innerhalb der Gruppe sind genau definiert.
1 – Die Hauptstimme, der Nehmer (Pártis), kann von Männern oder Frauen gesungen werden, sie können sich aber auch abwechseln. Der Nehmer stimmt das Lied an und nimmt die Melodie auf. Deshalb wird er auch Heber (Sikotís) genannt.
2 – Der zweite Sänger antwortet ihm. Er ist der Wender (Gyristís), der das Lied wendet (gyrízo) oder knickt (tsakízo).
3 – Jetzt kann ein weiterer Sänger hinzukommen (zusätzlich oder statt des Wenders), der Fadenspinner (Klóstis), der, wie beim Jodeln, Kehlkopflaute im Falsett singt und damit das Lied zwischen Grundton und Unterton der Melodie „spinnt“. Sein Gesang ist die Hand, die beim Spinnen des Fadens die Spindel nicht nur zum Rotieren bringt, sondern sie auch von Zeit zu Zeit hebt und senkt.
4 – Der Tonhalter (Isokrátis; Plural: Isokrátes) hält die Tonhöhe der Klangmelodie auf einer Ebene.
5 – Der Neiger (Ríchtis) lässt die Stimme „fallen“.
Beim fünfstimmigen Gesang sind alle Teile vorhanden. Bei vier Personen können die Rollen des Fadenspinners und des Neigers von einer Person übernommen werden. Es gibt aber auch Ensembles von bis zu 12 Personen. Dort gibt es mehrere Tonhalter (Isokrátes), die das Lied „tragen“, füllen und zum Schweben bringen.
Am Ende brechen der Wender und der Fadenspinner den Gesang im Unterton der Melodie abrupt ab, so dass mit dem letzten Laut des Nehmers eine starke Dissonanz entsteht. Sie ist das Hauptmerkmal dieser polyphonen Form und verleiht ihr einen besonderen Abgang.
Die Liedtexte sind eng mit der natürlichen, historischen und sozialen Umgebung verbunden: Es sind akritische Lieder und mittelalterliche Balladen, historische Erzählungen des Kampfes gegen die osmanische Herrschaft, aber auch Lieder über die Eheschließung, das Leben fern der Heimat, sogar über den Karneval.


Vieles deutet darauf hin, dass dieser polyphone Gesang vielleicht sogar aus vorgriechischer Zeit (späte Jungsteinzeit bis mittlere Bronzezeit, ca. 3000-1500 v. Chr.) stammt, da seine Melodien die pentatonische Halbtonskala (fünfstufige Tonleiter ohne Halbtöne) beibehalten haben. Dies deckt sich mit dem dorischen Gesang der Antike. Im Laufe der Jahrhunderte kamen neue Einflüsse hinzu, wie zum Beispiel die byzantinische Kirchenmusik, die zweifellos die tonalen und halbtonalen Klänge des Wenders sowie den Gesang der Tonhalter beeinflusst hat.
An der Technik des Nehmers und des Fadenspinners ist eine gewisse Nachahmung der „polyphonen“ Spielweise des Dudelsacks zu erkennen. Ähnlich klingen auch die alten epirotischen Klarinettisten und Geiger, wenn sie beim Spiel der traditionellen Weisen die einfache oder die Doppelspielpfeife nachahmen.
In den letzten Jahren haben eine Vielzahl von Kultureinrichtungen, lokalen Behörden und Initiativen von Diaspora-Griechen Maßnahmen und Aktionen zur Erhaltung und Verbreitung des polyphonen Liedes entwickelt.

“Diese Lieder sind nicht von einem Sänger mit einer ausgezeichneten Stimme abhängig, sondern von der Polyphonie der Gruppe. Wort und Melodie werden durch eine spezifische Technikdidaktik vermittelt. Jede Stimme hat ihren eigenen „Raum“ im Lied und trägt zum Ausdruck der kollektiven oder persönlichen Leidenschaft der Gruppe bei. Die Sänger stehen dicht beieinander und bilden oft einen Kreis. Es gibt keine Musikinstrumente. Daher drücken die Stimmen ihre Solidarität aus. Wenn man diese Lieder hört, zittert man entweder oder man kann sie nicht ertragen. Es gibt keinen Mittelweg. Denn ihr Ziel ist es nicht, zu gefallen, sondern etwas auszudrücken und dabei den kürzesten Weg zur Seele des Menschen zu gehen. Direktheit.“ (Michalis Ganas, Autor, Dichter).

Quellen, Fotos:

https://ayla.culture.gr/en/ipeirotiko_polyfonico_tragoudi/

https://diablog.eu/kuenste/musik/

https://apeirosgaia.wordpress.com/2012/05/31/ήνορο-ηπειρώτικα-πολυφωνικά-τραγούδ/

(PS)