Am 26. August 1818 notierte Goethe in seinem Tagebuch den Besuch von Ioannis Kapodistrias, damals Außenminister Russlands, und die anschließende Diskussion („über pädagogischen Unterricht“, wie es in seinem Tagebuch ausdrücklich heißt). Kurz darauf, am 7. September 1818, besuchte Goethe Kapodistrias, der damals, wie auch der Weimarer Dichter, sich im berühmten Kurort Karlsbad aufhielt (unter den Gästen war in diesem Sommer auch der österreichische Politiker Metternich).
Wenig später schrieb Goethe in einem Brief vom 28. September 1818 an den Freund und Diplomaten Carl Friedrich von Reinhard: „Mit Grafen Capo d᾿ Istria wohnte in Einem Haus und kam dadurch diesem bedeutendem Manne näher als sonst wohl der Fall gewesen wäre“. Goethe kam Kapodistrias nicht nur näher. Er wurde sicherlich über die Vorbereitungen der Griechischen Revolution, welche im März 1821 ausbrach, bestens unterrichtet.
Ioannis Kapodistrias, am 11. Februar 1776 auf Korfu geboren, hatte sich in Russland bis zur Ernennung als Außenminister bewährt. Im Jahr 1822, nach einer glänzenden Karriere, erlangte Kapodistrias von Zar Alexander dem Ersten eine Beurlaubung von seinem Amt, um sich in erster Linie der Freiheit und Unabhängigkeit des griechischen Volkes zu widmen. In diesem Jahr kehrte er nach Genf zurück, in das Land, wo es ihm wenige Jahre zuvor gelang, die verschiedenen religiösen Richtungen und Sprachgruppen zu vereinen und die Schweiz dem französischen Einfluss zu entziehen und eine konservative Richtung vorzugeben.
Von Genf aus, wo Kapodistrias bis Ende 1827 blieb, unternahm er mehrere Reisen, um einflussreiche Persönlichkeiten zu kontaktieren und sie für die Sache Griechenlands zu gewinnen. Außerdem hatte er die viel schwierigere Aufgabe, den griechischen Unabhängigkeitskampf zu koordinieren. Hier in Genf gelang es ihm, gute Kontakte zum Genfer philhellenischen Komitee und vor allem zum einflussreichen Bankier Jean-Gabriel Eynard zu knüpfen, der den griechischen Kampf tatkräftig und finanziell unterstützte. Im selben Jahr kam zu einer Nationalversammlung in Griechenland, wo Kapodistrias einstimmig zu dem ersten Regenten des Landes mit einer siebenjährigen Amtszeit gewählt und ernannt wurde.
Gleich nach seiner Vereidigung in Nafplion am 26. Januar 1828 begann Ioannis Kapodistrias mit einem ehrgeizigen Aufbauprogramm, welches als Ziel setzte, die Unabhängigkeit Griechenlands nach außen zu sichern und innenpolitisch ein modernes Land zu schaffen. Auch wenn seine Gegner ihm autoritäres Regieren nach zentralistischem Muster vorwarfen, gelang es ihm das Bedeutendste: Einen ersten wichtigen und richtungsweisenden Grundstein in fast allen Bereichen zu legen.
So bestand er auf der Schaffung einer professionellen Armee, auf der Verwaltungsgliederung des Landes und auf einem staatlichen Bildungswesen. Er belebte den Seehandel wieder, er gründete eine erste Geschäftsbank und er organisierte die Landwirtschaft neu, welche in diesen Jahren der wichtigste Wirtschaftsfaktor des Landes war.
Angesichts der katastrophalen Lage, in der sich Griechenland damals befand, kann man das staatsmännische Werk von Kapodistrias nicht genug würdigen. Gestützt auf seine enorme Sachkenntnis und langjährige Erfahrung in Staatsangelegenheiten, seine enorm wichtigen Kontakte in aller Welt, die Anerkennung und den Respekt, die ihm die europäischen Politiker entgegenbrachten, meisterte er unter den schwierigsten Bedingungen eine Herkulesarbeit.
Am 2. April 1829 sagte Goethe zu Eckermann, seinem Privatsekretär und Herausgeber seiner Werke: „Ich will Ihnen ein politisches Geheimnis entdecken, das sich über kurz oder lang offenbaren wird. Kapodistrias kann sich an der Spitze der griechischen Angelegenheiten auf die Länge nicht halten, denn ihm fehlet eine Qualität, die zu einer solchen Stelle unentbehrlich ist: er ist kein Soldat“.
Goethe hat mit seiner Vorahnung recht behalten. Am 27. September (nach dem julianischen Kalender) bzw. am 9. Oktober 1831, am späten Nachmittag, wurde Kapodistrias hinterrücks auf dem Weg zur Kirche Agios Spyridon in Nafplion von den Gebrüdern Mavromichalis ermordet. Damit kam nicht nur eine glänzende politische Karriere zu einem abrupten Ende, sondern es wurde auch sein ehrgeiziges Modernisierungsprogramm in einem darniederliegenden und verwüsteten Land zunichte gemacht.
Wenige Jahre später, 1837, nunmehr unter dem bayerischen Otto von Wittelsbach, dem ersten König Griechenlands, wurde die Athener Universität gegründet, welche als eine kleine Würdigung seiner enormen Leistung bis heute seinen Namen trägt. Im Jahr 1944 verfasste Nikos Kazantzakis, der berühmte Autor von „Alexis Zorbas“, der „Odyssee“ und vielem mehr, ein Theaterstück, in dem das Leben und das Werk von Ioannis Kapodistrias mit dichterischer Kraft plastisch vor Augen geführt wird. (AL)
Introbild. Links: Ioannis Kapodistrias, Porträt von Dionysios Tsokos, Detail. Oben rechts: Ioannis Kapodistrias, Lithographie von Franz Eybl, Detail (1829). Unten rechts: Ioannis Kapodistrias, Lithografie von Gustav Adolf Hippius, Detail (1822)/ Quelle: Wikimedia Commons
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